Kognitive Theorien zu Angst allgemein postulieren, dass kognitive Prozesse höchst relevant für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen sind (z.B. Barlow, 1988; Beck, Emery & Greenberg, 1985; Clark & Wells, 1995; Eysenck, 1992; Mathews & Mackintosh, 1998; Mogg & Bradley, 1998; Wells & Matthews, 1994; Williams, Watts, MacLeod & Mathews, 1988b). Dabei unterscheiden sich diese Theorien vor allem darin, welche Rollen sie kognitiven Verzerrungen (Bias) in Aufmerksamkeits-, Interpretations-, Gedächtnis- und Urteilsprozessen zuschreiben. Viele Kognitionsforscher gehen davon aus, dass diese verzerrten Informationsverarbeitungsprozesse wahrscheinlich direkt Angst auslösen und aufrechterhalten können, aber auch die Verhaltensebene modulieren, z.B. Vermeidungs- und Sicherheitsver- halten in gefürchteten Situationen auslösen (z.B. Beck et al., 1985; Clark & Wells, 1995; Mel- lings & Alden, 2000). Im Folgenden soll ein kurzer Abriss über die drei gängigsten kogniti- ven Modelle zur Sozialen Phobie gegeben werden:
Eine der ersten kognitiven Theorien stammt von Beck, Emery und Greenberg (1985) und beinhaltet so genannte dysfunktionale Grundüberzeugungen als Schwerpunkt der Sozialen Phobie. Sie geht davon aus, dass die Soziale Phobie vor allem aufgrund dysfunktionaler Über- zeugungen entsteht, die ein Individuum von sich selbst und den gesellschaftlichen Standards, wie man sich in sozialen Situationen angeblich verhalten muss, hat. Dabei werden drei Arten von dysfunktionalen Annahmen postuliert: 1. übertrieben hohe Standards des „richtigen“
Verhaltens in sozialen Situationen; 2. konditionale Annahmen über soziale Evaluation durch andere; und 3. unkonditionale Annahmen über das eigene Selbst. Diese Annahmen werden in sozialen Situationen aktiviert und tragen dann zur Aufrechterhaltung der sozialen Phobie bei. Durch ein Zusammenspiel von interpretativen und aufmerksamkeitsbezogenen Verzerrungen im Denken wird ein die Störung erhaltender Teufelskreis ausgelöst. Im Gegensatz zu anderen Angststörungen ist es dabei sogar wahrscheinlich, dass die befürchteten negativen Konse- quenzen wirklich eintreten. So können z. B. beim Halten einer Rede tatsächlich vermehrt Zei- chen von Unsicherheit wie Stocken im Redefluss oder Zittern auftreten, ausgelöst durch die voreingenommene Beschäftigung mit dem Auftreten dieser Konsequenzen.
Ein weiteres, sehr bekanntes Informationsverarbeitungsmodell der Sozialen Phobie ist das von Clark und Wells (1995). In ihrem Modell gehen Clark und Wells davon aus, dass sozial- ängstliche Personen aufgrund früherer negativer Erfahrungen eine Reihe von problematischen Annahmen über sich und ihre soziale Umwelt entwickeln. Diese führen dazu, soziale Situati- onen prinzipiell als gefährlich einzustufen. Diese negativen Bewertungen und die daraus re- sultierende Angst werden nach Clark und Wells (1995) durch verschiedene Teufelskreise auf- rechterhalten. Erstens: Sozialängstliche Personen verlagern ihre Aufmerksamkeit weg von der sozialen Situation und werden hoch selbstaufmerksam; daraufhin ziehen sie, interne Informa- tionen wie z.B. Angstgefühle und spontane, verzerrte Gedanken über ihr beobachtbares Selbst benutzend, falsche Schlüsse darüber, wie sie gegenüber anderen erscheinen. Sie benutzen zweitens verschiedene kognitive und behaviorale Sicherheitsstrategien, um die befürchteten Katastrophen zu vermeiden, was wiederum die negativen Überzeugungen aufrechterhält. Drit- tens ist ihre Verarbeitung sozialer Reize stark in die Richtung verzerrt, Reaktionen von ande- ren zu entdecken, die als negativ und abwertend interpretiert werden können. Außerdem neh- men Clark und Wells an, dass Personen mit Sozialer Phobie verzerrte Informationsverarbei- tungsstrategien vor und nach sozialen Ereignissen anwenden, wobei sie selektiv vor Allem negative Informationen über sich selbst und ihr soziales Auftreten finden und damit negative Bewertungen über sich selbst und negative Vorhersagen über ihr zukünftiges soziales Verhalten machen.
In einem ähnlichen Modell postulieren Rapee und Heimberg (1997), dass soziale Situatio- nen eine Reihe von kognitiven Prozessen anstoßen, die soziale Angst direkt auslösen und auf- rechterhalten können. Wesentlicher Bestandteil ist auch hier die Diskrepanz zwischen Selbstrepräsentation und vermuteten Erwartungsstandards von anderen. Kennzeichnend ist dabei, dass diese Mutmaßungen über die Erwartungsstandards zumeist unrealistisch hoch und perfektionistisch sind. In sozialen Situationen bildet das Individuum eine mentale Repräsentation von seiner äußeren Erscheinung und seinem Verhalten, wie es vermutlich von den anderen wahrgenommen wird, und fokussiert seine Aufmerksamkeit auf diese Repräsentation und gleichzeitig auf jegliche wahrnehmbare Bedrohung in der sozialen Umgebung. Es findet demnach ein Vergleich zwischen der mentalen Repräsentation ihres Selbst, wie es angeblich von anderen gesehen wird, und den angenommenen sozialen Standards anderer statt. Die Dis- krepanz zwischen beidem wird dann wahrgenommen als Wahrscheinlichkeit, negativ bewer- tet zu werden, welche wiederum Angst mit ihren physiologischen, behavioralen und kogniti- ven Facetten auslöst. Diese beeinflusst dann negativ wiederum die Selbstrepräsentation, wo- mit sich der Teufelskreis erneuert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Diese genannten kognitiven Theorien postulieren, dass verzerrte Informationsverarbeitungsprozesse eine Schlüsselrolle im Entstehen und der Aufrechterhaltung der Sozialen Phobie spielen. In der Literatur werden dabei vor allem feh- lerhafte bzw. verzerrte Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-, Interpretations- und Urteilsprozesse beschrieben (Mathews & MacLeod, 1994). Da sich die vorliegende Arbeit vor allem mit Aufmerksamkeitsprozessen beschäftigt, wird auf eine ausführlichere Darstellung von verzerr- ten Gedächtnis- und Interpretationsprozessen hier verzichtet. Ausführliche Zusammenfassun- gen hierzu bieten zwei Überblicksartikel, auf die der interessierte Leser verwiesen wird (Clark & McManus, 2002; Heinrichs & Hofman, 2001).
Im folgenden Abschnitt werden nun die bekanntesten Theorien zu Aufmerksamkeitsverzer- rungen bei Sozialer Phobie vorgestellt, bevor im Weiteren die gängigsten Experimentalpara- digmen zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsverzerrungen und daraus folgende Befunde erläutert werden.
Quelle: Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät II
der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, vorgelegt von Matthias J. Wieser aus Würzburg