Ein Risikofaktor, dem in der Erforschung der Ursachen der sozialen Phobie in den letzten Jahren verstärkt Beachtung geschenkt wurde, ist das Vorliegen einer sozialen Phobie in der Familie. Inzwischen liegen Befunde aus mehreren primär an klinischen Stichproben durchgeführten Familienstudien vor, die ingesamt darauf hindeuten, dass die soziale Phobie in Familien häufiger vorkommt. Familienangehörige von Betroffenen mit einer sozialen Phobie haben im Vergleich zu Familienangehörigen von Personen ohne soziale Phobie ein erhöhtes Risiko, ebenfalls dieses Störungsbild zu entwickeln.
Im Rahmen der Münchener Early Developmental Stages of Psychopathology Study (EDSP), in welcher eine unabhängige Elternbefragung durchgeführt wurde, konnten solchen familiären Effekte auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersucht werden (Lieb et al. 2000). Es konnte gezeigt werden, dass Kinder von Eltern mit einer sozialen Phobie weit häufiger von einer sozialen Phobie berichten als Kinder von psychisch gesunden Eltern. Allerdings berichten auch Kinder von Eltern mit anderen psychischen Störungen, wie z.B. einer Depression oder Alkoholabhängigkeit, erhöhte Raten an sozialer Phobie. Dies ist ein Hinweis darauf, dass das Risiko nicht spezifisch für die elterliche soziale Phobie zu sein scheint.
Inwieweit genetische oder auch familiär-umweltbedingte Faktoren dieses erhöhte familiäre Risiko erklären können und welche Mechanismen genau bei der familiären Transmission eine Rolle spielen, ist bis heute weitestgehend unbekannt. Zwillingsbefunde von Kentre et el. (1993, 1999) weisen darauf hin, dass neben genetischen und umweltbedingte Faktoren beteiligt sind.
In der EDSP-Studie wurde neben der familiären Belastung daher auch der elterliche Erziehungsstil als möglicher Risikofaktor untersucht. Es zeigte sich im Einklang mit klinischen Studien, dass dysfunktionales elterlichen Erziehungsverhalten (Überbehütung, Zurückweisung, fehlende emotionale Wärme) signifikant einer soziale Phobie bei der Kindern vorhersagt.
In Anbetracht der starken familiären Aggregation und der Rolle eines dysfunktionalen elterlichen Erziehungsstils erscheint möglicherweise das Zusammenspielt dieser beiden Faktoren das Risiko für eine soziale Phobie zu erhöhen. In der Tat fanden sich in der EDSP-Studie Interaktionen zwischen elterlichen psychischen Störungen und dem elterlichen Erziehungsstil: Demnach ist das Risiko für eine soziale Phobie bei den Kindern vo allem dann erhöht, wenn Eltern von einer sozialen Phobie betroffen waren und die Kinder das elterliche Erziehungsverhalten als ablehnender, überbehütender oder weniger warm empfanden im Vergleich dazu, wenn nur eine dieser beiden Bedingungen (elterliche soziale Phobie ungünstiger Erziehungsstil) vorlag (Knappe et al. 2009)
Quelle: Klinische Psychologie & Psychotherapie