Sie kann lähmen und krank machen, aber auch inspirieren und beflügeln: Langzeitstudien von Psychologen und Hirnforschern haben ergeben, wie stark die Angst unsere Persönlichkeit prägt. Schon im Kindesalter zeigt sich, wie furchtsam ein Mensch später durchs Leben geht.
Steven war ein kleiner, schmächtiger Junge ohne Freunde. Seine Mitschüler verspotteten und verprügelten ihn. Er schämte sich seiner Nase, die ihm riesengroß erschien. Am liebsten wäre er unsichtbar gewesen.
„Er fürchtete sich vor fast allem“, erinnert sich Leah, seine Mutter, „wenn Äste gegen das Haus schlugen, verkroch er sich bei mir im Bett.“
Einmal sollte Steven im Biologieunterricht einen Frosch sezieren – da flüchtete er aus dem Raum und übergab sich. Er sei mit seiner Panik nicht allein gewesen, sagte er später, „aber alle anderen waren Mädchen“.
Ein anderer Junge, Bill, hatte es auch nicht leichter. Bill wurde von seinen Eltern zum Psychologen geschickt, als er zwölf Jahre alt war. „Wir machten uns Sorgen“, erzählte sein Vater, „er war so schüchtern und schutzbedürftig.“
Am liebsten verschanzte sich der Eigenbrötler im Keller, um ein Lexikon von vorn bis hinten durchzuackern. Die Psychotherapie half nicht viel: Als der Abschlussball bevorstand, traute Bill sich nicht, ein Mädchen einzuladen. Als er sich nach tagelangem Zureden seiner Eltern endlich doch ein Herz fasste, gab ihm die Auserwählte einen Korb.
Ihre Ängstlichkeit hielt die beiden Jungs nicht davon ab, in ihrem späteren Leben Außerordentliches zu vollbringen.
Steven Spielberg wurde zum erfolgreichsten Regisseur aller Zeiten – und Bill Gates für viele Jahre zum reichsten Mann der Welt.
Ist die Angst vielleicht sogar der Schlüssel dazu? War dieses mächtige Urgefühl am Ende eine Triebfeder für ihren beispiellosen Erfolg?
Das ist eine der überraschenden Botschaften, zu denen Psychologen, Hirnforscher und Genetiker in jüngster Zeit gelangt sind. Mit modernsten Untersuchungsmethoden, spannenden Experimenten und viel Geduld haben sie herausgefunden, wie stark dieses Urgefühl unsere Persönlichkeit prägt.
Einzigartige Einblicke liefern besonders mehrere Langzeitstudien der Harvard University, deren neueste Ergebnisse gerade erst veröffentlicht wurden. Schon im Babyalter, so die zentrale Aussage, entscheidet sich demnach, ob man zu den Ängstlichen oder zu den weniger Ängstlichen gehört.
Als der amerikanische Entwicklungspsychologe Jerome Kagan vor über 30 Jahren in Cambridge seine Untersuchung an Kleinkindern begann, wollte er ganz generell ergründen, wie sich das angeborene Temperament eines Menschen durch äußere Einflüsse und Lebenserfahrungen verändert. Doch je länger seine Studie lief, desto klarer zeichnete sich ab: Die prägendste und faszinierendste Eigenschaft ist die Ängstlichkeit.
Einig sind sich die Gelehrten inzwischen auch darin, wie überlebenswichtig es ist, in bestimmten Situationen Furcht zu empfinden – solange sie einen nicht überwältigt. Sie schärft die Sinne und ermöglicht, dass der Körper schneller reagiert als der Verstand – und manchmal sind es genau diese Millisekunden, die Leben retten.
Wäre die Menschheit ohne Furcht, sagt die Evolutionsforschung, wäre sie längst ausgestorben.
Erstaunlich genug: Alles in allem laufen die aktuellen Forschungen fast schon auf ein Lob der Angst hinaus.
Angst hat keinen guten Ruf, natürlich nicht. Ängstliche Menschen sind nicht gemacht für schnelle Zeiten, für all die Erfordernisse des modernen Lebens. Den Mutigen gehört die Welt, heißt es, und dass Angst ein schlechter Ratgeber sei.
Jeder Mensch hat Angst, manchmal mehr, manchmal weniger; aber nur wenige sprechen gern oder wenigstens offen darüber.
Menschen, die keine Angst empfänden, sagt Borwin Bandelow, Psychiater in Göttingen und einer der bekanntesten Angstforscher Deutschlands, seien in aller Regel psychisch gestört. Der Biopsychologe Niels Birbaumer aus Tübingen, der die Gehirne angstfreier Psychopathen untersucht, ergänzt: „Menschen mit einem solchen Defekt bekommen meist schon in der Kindheit Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich. Später werden sie oft kriminell.“
Angst ist eine Grundfarbe des menschlichen Empfindens: Es ist viel einfacher, Kindern Angst zu machen, als sie in eine entspannte Stimmung zu versetzen. „Sie kann den Körper völlig überwältigen“, sagt der New Yorker Hirnforscher Joseph LeDoux. „In diesem Sinne ist sie mächtiger als Freude und Glückseligkeit.“
Jürgen Margraf, 54, Psychologe an der Ruhr-Universität Bochum, geht noch einen Schritt weiter: „Fast alle Eigenarten des Menschen hängen mit seinen Ängsten zusammen.“
Dennoch gilt Angst als Zeichen von Schwäche, als leistungshemmend und unmännlich. Sie ist lästig, belastend, sie engt ein und zerstört Lebensfreude. Und es stimmt ja auch: Wird sie zu mächtig, kann sie Menschen handlungsunfähig und krank machen. Die Grenze zwischen normaler und pathologischer Angst ist unscharf. Auch gesunde Menschen sind fähig, Angst in ihrer extremsten Form zu empfinden. Krankhafte Angst unterscheidet sich von normaler Angst in erster Linie darin, dass sie übersteigert und unrealistisch wirkt. Von einer Angststörung sprechen Psychiater und Psychologen, wenn Symptome wie innere Unruhe, Anspannung, Schlafstörungen, Reizbarkeit und körperliches Unwohlsein die Alltagstauglichkeit eines Menschen oder seine Beziehungen beeinträchtigen.
Angststörungen wie Panikattacken, Phobien und generalisierte Angst sind in den Industrieländern die häufigste Form psychischer Erkrankungen. Von Schizophrenie ist etwa ein Prozent der Bevölkerung betroffen, von Depressionen sind es, über die Lebenszeit betrachtet, 18 Prozent – aber jeder vierte Mensch, schätzen Experten wie Bandelow, leidet einmal im Leben unter irgendeiner Form klinisch bedeutsamer Angst. Angststörungen gelten auch als Auslöser anderer Krankheiten und richten einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden an.
Zugleich aber ist die Angst eine der mächtigsten Triebfedern des Lebens. Sie schärft die Sinne, motiviert, treibt vorwärts, weckt Phantasie, Kreativität und schöpferische Kraft. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard formulierte es so: „Die Angst lähmt nicht nur, sondern enthält die unendliche Möglichkeit des Könnens, die den Motor menschlicher Entwicklung bildet.“
Ihre Überwindung löst Hochgefühle aus; manche Menschen können ohne den Nervenkitzel nicht leben. Winston Churchill beschrieb es 1898 als britischer Kriegsberichterstatter so: „Nichts im Leben löst ein größeres Hochgefühl aus, als beschossen und nicht getroffen zu werden.“
Extrembergsteiger, Fallschirmspringer, Riesenwellen-Surfer, in abgeschwächter Form auch Achterbahnfahrer oder Fans von Horrorfilmen – sie alle suchen den Thrill, um hinterher die Glückshormone zu spüren, die der Körper ausschüttet, wenn die Gefahr überwunden ist.
„Das Angstsystem ist entwicklungsgeschichtlich so alt und primitiv, dass es sich leicht täuschen lässt“, erläutert Psychiater Bandelow. „Deshalb gruseln wir uns im Kino, auch wenn uns der Verstand sagt, dass es sich nur um einen Film handelt.“
Wie früh die Angst im Leben eines Menschen verankert wird, zeigen die Langzeitstudien der Harvard University. Hunderte Säuglinge und Kleinkinder haben die Psychologen in den vergangenen Jahrzehnten beim Großwerden beobachtet und sie dabei umfangreichen Experimenten und physiologischen Messungen unterzogen. Schritt für Schritt erweiterten die Wissenschaftler ihr Instrumentarium um neue Methoden der Hirnforschung und Genetik. Sie beobachteten die Furchtreaktionen ihrer Probanden im Gehirnscanner, sie analysierten DNA-Proben und verknüpften diese Messdaten mit dem gesammelten Wissen über die Physiologie, das Verhalten und die Lebensumstände der einzelnen Personen. Entstanden sind so einmalige Einblicke in die Biologie der Angst.
Die erste Erkenntnis von Kagan lautet: Ob sich jemand als Erwachsener ängstlich verhält oder wie ein Draufgänger, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon an der Wiege erkennen. Angeborene Ängstlichkeit, so der Psychologe, ist ein verblüffend stabiles Persönlichkeitsmerkmal – und sie beeinflusst den Lauf des Lebens wie kaum ein anderes.
Steven Spielberg und Bill Gates sind so gesehen keine Ausnahmen. Auffallend viele herausragende Denker, Erfinder, Wissenschaftler, Dichter, Musiker und Schauspieler waren oder sind zutiefst furchtsame Menschen. Warren Buffett, der milliardenschwere Investor, war als Heranwachsender ähnlich scheu und gehemmt wie sein Freund Gates.
Ein extrem ängstlicher Mensch war auch Charles Darwin. Der Vater der modernen Evolutionstheorie fürchtete sich vor fast allem: Schlangen, Menschenmengen, Festen, Reisen, dem Alleinsein. Über Panikattacken wiederum klagten Musiker wie Aretha Franklin, Ray Charles, Eric Clapton und David Bowie – und auch der italienische Komponist Antonio Vivaldi. Berühmte Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe, Bertolt Brecht, Samuel Beckett, John Steinbeck, Franz Kafka, Virginia Woolf und T. S. Eliot wurden von Ängsten gequält. Die Sängerin Barbra Streisand und der Schauspieler Sir Lawrence Olivier kämpften mit sozialer Phobie.
Psychiater Bandelow ist davon überzeugt: „Man muss ängstlich sein, um Großes zu vollbringen.“ Nur die Angst könne im Menschen jene unerschöpfliche Energie freisetzen, die für Spitzenleistungen erforderlich sei.
Wer Angst hat zu versagen, ins Mittelmaß abzurutschen, arbeitet härter und ausdauernder. Und wer häufig unter irgendeiner Form von Phobie leidet, kann Erleichterung darin finden, bis zur Erschöpfung zu üben, zu komponieren, zu malen oder zu schreiben.
Aus diesem Grund sind kreative Menschen, die zu Ängstlichkeit neigen, zwar nicht glücklicher, aber oft emotionaler, leidenschaftlicher und ausdrucksstärker als andere. Es sei kein Zufall, sagt Bandelow, dass das Publikum besonders jene Menschen liebe, die neurotisch und ängstlich seien. Der Psychiater bringt es auf die Formel: „Angst ist das Superbenzin für Erfolg.“
Rational betrachtet gibt es heute zumindest in der westlichen Welt weniger Anlass denn je, sich zu ängstigen: Die modernen Kriege finden in der Ferne statt; keiner muss mehr hungern oder frieren. Die Menschen sind sicherer und freier als jemals zuvor in der Geschichte. Man kann sich absichern gegen Arbeitslosigkeit, Unfälle, Krankheiten. Die Lebenserwartung steigt und steigt.
Dennoch diagnostizieren Forscher eine kollektive Zunahme der Angst. Der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf spricht gar von einem „Zeitalter der Angst“. Angst ist genau genommen nicht dasselbe wie Furcht, die sich immer auf ein reales und konkretes Objekt oder Ereignis richtet. Die Angst, die Margraf meint, äußert sich eher als ein Gefühl chronischen Unbehagens angesichts diffuser Bedrohungen, wie sie vom Terrorismus, von der Weltwirtschaftskrise und instabileren Beziehungen ausgehen.
Doch woran liegt es, dass sich manche Menschen von den Unwägbarkeiten des Lebens stärker verunsichern lassen als andere? Weshalb finden so viele keine innere Ruhe, egal wie sicher ihr Arbeitsplatz und wie harmonisch ihr Umfeld ist?
Und wieso gelingt es manchen, ihre Angst als Antrieb für außergewöhnliche Leistungen zu nutzen, während andere psychische Störungen entwickeln? Wovon hängt es ab, ob die Grenze zur krankhaften Phobie überschritten wird?
Der Mann, der ein ganzes Forscherleben damit verbracht hat, Antworten auf diese Fragen zu finden, sitzt in seinem Büro im achten Stock eines schmucklosen Gebäudes der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Jerome Kagan möchte zunächst eines klarstellen: „Angst wird zu einer Krankheit wie Diabetes gemacht – und das ist furchtbar.“
Und fährt dann fort: „Wenn dein Arzt sagt, du hast Diabetes, und du sagst, es stört mich aber nicht in meinem Alltag, wird er antworten: Schön, du hast trotzdem Diabetes.“ Mit der Angst sei es anders: „Sie ist nur dann eine Krankheit, wenn sie dich unglücklich macht und verhindert, dass du tun kannst, was du tun willst. Nur dann solltest du Hilfe suchen.“
Kagan, 81, ein kleiner, entdeckungsvergnügter Mann mit schalkhaften Augen, tiefen Denkfurchen in der Stirn und leicht abstehenden Ohren, gilt als einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen der Welt. Als er seine erste Studie zu Temperament und Angst begann, stellte er sich zwei ebenso einfache wie fundamentale Fragen: Warum sind manche Kinder von Natur aus scheu und andere nicht? Und wie wirkt sich diese Eigenschaft auf ihr späteres Leben aus?
Derzeit laufen in Harvard noch immer zwei große Langzeitstudien, die Kagan 1979 und 1989 initiiert hat. Die erste begann mit 400 Kleinkindern, die rund zwei Jahre alt waren; die zweite mit rund 500 Säuglingen in der 17. Lebenswoche, deren Mütter zur Mittelschicht gehörten, mehrheitlich ein Studium abgeschlossen und eine problemlose Schwangerschaft und Geburt hinter sich hatten.
Zwei ähnliche Langzeitstudien leitet der Psychologe Nathan Fox, 62, an der University of Maryland in College Park. Seine Probanden sind mittlerweile 18 und 7 Jahre alt.
Im Kern kommen beide Forschungsteams zum gleichen Ergebnis: 15 bis 20 Prozent aller Babys reagieren bereits im Alter von vier Monaten empfindlich auf fremde Gegenstände, Personen und Situationen – sie weinen, zappeln mit Armen und Beinen und drücken den Rücken durch. Aus diesen Babys, die Kagan „high reactive“ nennt, werden später tendenziell ängstliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die verletzlicher sind bei Stress, Schicksalsschlägen und Traumata .
40 Prozent der Säuglinge sind das genaue Gegenteil: von Geburt an pflegeleicht, ausgeglichen und schwer aus der Ruhe zu bringen. Die übrigen liegen irgendwo in der Mitte.
Im Detail haben die Langzeitstudien viele weitere Erkenntnisse geliefert, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
‣ Der Übergang von gesunder zu krankhafter Angst ist fließend.
‣ Angeborene Ängstlichkeit prägt die Persönlichkeit wie keine andere Charaktereigenschaft.
‣ Hochreaktive können ihre Veranlagung kaum verändern – wohl aber ihren Umgang damit.
‣ Finden Hochreaktive ihre Nische, sind sie oft zu außergewöhnlichen Leistungen fähig – so wird Angst zum Erfolgsfaktor.
Von allen Babys, die Kagan über die Jahre in seinem Labor untersucht hat, gehörten George Bennett und Jane Williams bereits mit vier Monaten zu den schreckhaftesten(*). Hielten die Forscher ihnen unschuldige Winnie-Puuh-Mobiles oder Plüschtiere vor die Nase, fingen sie jählings an zu weinen und zu strampeln. Sollten sie an Wattebäuschchen schnuppern, die etwa nach Alkohol rochen, verloren sie vollkommen die Fassung.
Eines der eindrucksvollsten Experimente bestand darin, dass die Mutter aus dem
Blickfeld des Säuglings verschwand, während eine weibliche Stimme auf Tonband fragte: „Hallo Baby, wie geht es dir?“ Die meisten Säuglinge, berichtet Kagan, hätten sich die Aufnahme einigermaßen ruhig und aufmerksam angehört.
Baby Jane nicht: „Sie stieß einen spitzen Schrei aus und begann zu weinen.“
Da das ängstliche Geschrei und Gezappel hochreaktiver Babys wie Jane und George zwischen den einzelnen Tests meist rasch aufhörte, schlossen die Forscher, dass es tatsächlich durch die neuen Reize ausgelöst wurde und nicht etwa durch Hunger, Schmerzen oder Müdigkeit.
Die Frage ist nur: Wie viel sagt es über die spätere Persönlichkeit eines Menschen aus, wenn er sich als Baby von Plüschtieren und Wattebäuschchen erschüttern lässt?
Temperament ist ein vielschichtiges Konstrukt. Die meisten Wissenschaftler definieren es als eine angeborene Neigung zu bestimmten Gefühlen und Handlungen, die sich erstmals im Säuglings- und Kleinkindalter zeigt und sich über die Jahre im Zusammenwirken mit äußeren Einflüssen zur Persönlichkeit formt.
Verschiedene Temperamente, so glauben die Forscher um Kagan und Fox, lassen sich auf angeborene Schaltkreise im Gehirn zurückführen, die jeweils eine Vielzahl körperlicher Reaktionen auslösen können. Vereinfacht ausgedrückt: Wie wir auf freudige, traurige, aufregende und bedrohliche Ereignisse und Situationen reagieren, wird zu einem maßgeblichen Teil durch unsere Verdrahtung im Hirn mitbestimmt. Und am deutlichsten zeigen sich die angeborenen Unterschiede bei der Ängstlichkeit.
In ihren ersten Lebensjahren schienen sich Jane und George ihrem Temperament entsprechend zu entwickeln. Als Jane im Alter von zwei Jahren zu weiteren Tests ins Labor kam, klammerte sie sich zur Beruhigung an ihr mitgebrachtes Lieblingsplüschtier. George fürchtete sich vor Fremden, Hunden und Wasser; bis er drei Jahre alt war, sprach er nicht.
Es gibt drei Situationen, in denen sich die Ängstlichkeit kleiner Kinder besonders gut testen lässt: wenn man in ihren persönlichen Raum eindringt und ihnen zum Beispiel eine Blutdruckmanschette anlegt; wenn man ihnen fremdartige Objekte vorführt; oder wenn man sie mit fremden Personen konfrontiert, insbesondere wenn diese seltsam gekleidet sind oder ein unfreundliches Gesicht machen.
Als ihre Probanden zwei Jahre alt waren, fuhren Kagan und seine Mitarbeiter schweres Geschütz auf: Eine fremde Frau mit Laborkittel und Gasmaske betrat den Raum oder ein maskierter Clown. Diesen Gestalten sollten sich die Kinder nähern. Rund ein Drittel der Zweijährigen zeigte nie oder nur bei einem von 17 derartigen Experimenten Angst. Ein weiteres Drittel fürchtete sich häufig, wich zurück und suchte die Nähe der Mutter – mindestens in vier Situationen. George und Jane gehörten zu dieser Gruppe und wurden beide als stark gehemmt eingestuft.
Das entscheidende Ergebnis aber war: Die Mehrheit der schreckhaften Zweijährigen hatte bereits mit vier Monaten zu den hochreaktiven Babys gehört. Obwohl sie nun schon zwei Jahre ganz unterschiedliche Erfahrungen sammeln konnten, spiegelte sich in ihrem Verhalten noch immer ihr angeborenes Temperament wider.
„Ich gelte als ängstlich, seit ich denken kann“, sagt George Bennett, heute 21. Er sitzt in einem Café in Cambridge, ein schmächtiger junger Mann mit schmalem Gesicht und blonden Locken. Er ist bereit, seine Geschichte zu erzählen, auch wenn es ihm sichtlich schwerfällt. Seine Augenlider flattern, er blickt zur Seite und spricht mit leiser, ausdrucksloser Stimme. Oft verliert er sich in seinen Sätzen. Während des zweistündigen Gesprächs sagt er mehr als 80-mal „ich weiß nicht“.
Die schlimmste Erinnerung seines Lebens, erzählt Bennett, reiche zurück in die Zeit, als er drei oder vier Jahre alt gewesen sei. Er besuchte damals eine Kindertagesstätte, und seine Eltern wechselten sich mit den Eltern einiger Nachbarskinder beim Abholen ab. „Doch eines Tages vergaß mich die Mutter eines anderen Kindes in ihrem Auto“, berichtet Bennett. „Es war ein großer Kombi, und ich saß ganz hinten in einer Ecke.“
Er schweigt einen Moment, dann sagt er: „Ich war wahrscheinlich so still, dass sie mich nicht bemerkte.“
Die Frau fuhr zu einem Tennisplatz, parkte den Wagen und verschwand. Der kleine George rührte sich nicht von seinem Sitz. Als die Frau nach anderthalb oder zwei Stunden zurückkehrte, gab er noch immer keinen Laut von sich. Erst als sie bei einer Tankstelle hielt, bemerkte sie den stummen Jungen in ihrem Auto.
Sie erschrak fast zu Tode. Georges Mutter hatte ihn in der Zwischenzeit schon überall gesucht und sogar die Polizei verständigt. „Ich weiß nicht, warum ich mich nicht traute, mich bemerkbar zu machen“, sagt George heute. Seinen beiden jüngeren Geschwistern wäre das nicht passiert, glaubt er; sie seien nie so gehemmt gewesen wie er: „Ich war einfach kein Kind, das für sich selbst einstehen konnte.“
Was hilft Kindern dabei, übertriebene Ängstlichkeit zu überwinden? Um diese Frage zu beantworten, besuchte Doreen Arcus, eine Mitarbeiterin Kagans, die Hochreaktiven zwischen den Experimenten im Labor immer wieder in ihren Elternhäusern. Ihr Fazit: Kinder, die von ihren Eltern nicht übermäßig behütet, sondern sanft, aber bestimmt dazu angehalten wurden, neue Erfahrungen zu sammeln, verhielten sich mit zwei Jahren am wenigsten furchtsam. Elterliche Ungeduld und Kritik verstärkten hingegen die Unsicherheit der Kinder.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Nathan Fox von der University of Maryland. Der Forscher wies nach, dass es ängstlichen Kindern nützt, eine Krippe zu besuchen – weil sie sich dort zwangsläufig an fremde Menschen und Situationen gewöhnen. „Es funktioniert wie kognitive Verhaltenstherapie bei Erwachsenen“, sagt Fox, „bloß ohne den kognitiven Teil.“
In den ersten Jahren stellten die Wissenschaftlerteams keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern fest – wohl aber im Schulalter. Für Jungen, sagt Fox, werde es mit der Zeit immer schwieriger, ihre Ängstlichkeit zu überwinden, weil sie von ihren Altersgenossen öfter verspottet und ausgeschlossen würden als Mädchen.
Auch bei späteren Tests kam immer wieder das früh sichtbare Temperament der Probanden durch: Mit vier Jahren verhielten sich Hochreaktive immer noch mit vierfach erhöhter Wahrscheinlichkeit gehemmt. Mit sieben Jahren hatte fast die Hälfte von ihnen spezifische Ängste entwickelt – vor Gewittern, der Dunkelheit oder Schulversagen. Bei den anderen Kindern waren es nur zehn Prozent.
Rund ein Drittel der Hochreaktiven entwickelte im Verlauf der Studien sogar krankhafte Symptome. George gehörte dazu, Jane nicht. Von den Kindern, die nicht hochreaktiv gewesen waren, wurde kaum eines klinisch auffällig.
Viele Hochreaktive lernten aber auch, ihr Verhalten dem der anderen Kinder anzugleichen. „Die meisten Kinder erscheinen mit jedem Lebensjahr weniger ängstlich“, stellt Kagan fest. „Wenn sie 15 sind, merkt man vielen äußerlich kaum noch an, dass sie hochreaktive Babys waren.“
Auffällig an den Hochreaktiven bleibe jedoch, so Kagan, dass sie sich schwer damit täten, innere Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden: „Es ist dieses Gefühl von Anspannung, wenn das Flugzeug verspätet ist. Wenn ich am nächsten Tag irgendwohin fahren muss, aber der Wetterbericht kündigt einen Schneesturm an. Wenn mein Chef sagt, er brauche die Unterlagen bis 18 Uhr.“
Als Jane, das furchtsame kleine Mädchen, 15 Jahre alt war, besuchte eine Mitarbeiterin Kagans sie in ihrem Elternhaus. Es gibt eine Videoaufzeichnung von diesem Gespräch. Zu sehen ist ein attraktiver Teenager mit langen dunklen Haaren, Jeans und engem brombeerfarbenem Shirt, der aufrecht auf einem Sofa sitzt und Kaugummi kaut. Das Interview, das bei allen Testpersonen nach demselben Schema abläuft, beginnt mit Fragen über die Schule.
Sie habe in fast allen Fächern Bestnoten, erzählt Jane, aber sie arbeite auch sehr hart, um das zu schaffen. Neben der Schule trainiere sie seit ihrem sechsten Lebensjahr fünf- bis sechsmal pro Woche mit ihrem Pferd; von Frühling bis Herbst habe sie jedes Wochenende ein Reitturnier. „Mental ist das sehr hart“, sagt die 15-Jährige. Für andere Freizeitbeschäftigungen bleibe ihr keine Zeit.
An einer Stelle fragt die Interviewerin, was sie ängstlich oder nervös mache. „Das Reiten“, antwortet Jane sofort. „Bei einem Wettkampf ist man immer allein auf sich gestellt.“ Sie kaut jetzt schneller, fährt sich mit den Fingern durch die Haare. „Und Prüfungen schreiben und zurückbekommen, weil ich nie weiß, was ich für eine Note bekomme.“
Jane wirkt nicht schüchtern während des Interviews, eher ernst und konzentriert. Ihre Antworten sind knapp; selten knipst sie ein Lächeln an, und das verschwindet dann gleich wieder. Auf die Frage, was sie sich im Leben am meisten wünsche, antwortet sie: „In den nächsten drei Jahren möchte ich sehr erfolgreich sein im Reiten.“ Wenn sie erwachsen sei, fährt sie fort, wolle sie einen Job finden, der viel Geld bringe. „Damit ich mir darüber keine Sorgen machen muss.“
Während Menschen lernen können, ihre Ängstlichkeit zu überwinden und ihr Verhalten zu ändern, enthüllen ihre körperlichen Reaktionen, was Kagan den „langen Schatten des Temperaments“ nennt. Bei physiologischen Messungen nämlich schlägt das Herz der Hochreaktiven schneller als das der anderen Kinder; ihr Speichel enthält größere Mengen des Stresshormons Cortisol; und wenn sie sich von einem Stuhl erheben, schnellt ihr Blutdruck nach oben. Lösen sie Denkaufgaben, weiten sich ihre Pupillen stärker – ein Zeichen für größere Konzentration.
„Das angeborene Temperament verschwindet nicht“, konstatiert Kagan, „auch wenn es von außen nicht mehr erkennbar ist.“
Eine angeborene Neigung zur Ängstlichkeit kann das Leben belasten, aber auch günstig beeinflussen – eine entscheidende Rolle, so Kagan, spielten dabei d as persönliche Umfeld und positive Erfahrungen. „In unserer Kultur gilt es als wünschenswert, extrovertiert und risikofreudig zu sein“, sagt Kagan. „Gerade ängstliche Menschen sind aber in Bereichen wie Forschung oder Kunst oft außerordentlich erfolgreich und verdienen viel Geld und ernten Anerkennung.“ Außerdem würden sie seltener kriminell, brächten sich nicht leichtfertig in Gefahr und lebten deshalb länger.
Wenn ein hochreaktives Temperament etwas Negatives wäre, argumentiert auch Psychologe Fox, hätte es sich im Laufe der Evolution nicht mit einem so hohen Anteil von 15 bis 20 Prozent in der Bevölkerung durchgesetzt. „Für die Gesellschaft als Ganzes ist es von Vorteil“, sagt Fox, „wenn manche Personen wachsamer, umsichtiger, nachdenklicher und weniger impulsiv sind.“
Hochreaktive seien oft auch besser darin, die Gefühle anderer zu verstehen. Fox: „Am anderen Ende der Skala stehen Psychopathen, die gar keine Angst haben, aber eben auch kein Mitgefühl empfinden, wenn sie andere leiden sehen.“
„Alle Menschen kennen das Gefühl von Unsicherheit, weil sie nicht wissen, wie ihre Zukunft aussieht“, sagt Kagan. „Aber bei Hochreaktiven ist dieses Gefühl tendenziell stärker, weil sie von Natur aus empfindlich auf Unerwartetes und Neues reagieren.“
Die Ursache für diese Empfindlichkeit liegt in einer walnussgroßen Hirnregion namens Amygdala.
Wer verstehen will, was bei Angst im Gehirn geschieht, sollte mit Joseph LeDoux, 60, sprechen. Der Neurowissenschaftler, der gern Holzfällerhemden trägt und sich die Haare nach hinten kämmt, leitet das Center for the Neuroscience of Fear and Anxiety an der New York University in Manhattan. In seinem Büro mit Blick aufs Empire State Building stehen Schlagzeugtrommeln und eine Gitarre; seine Rockband, mit der er durch die Bars von New York tingelt und selbstverfasste Songs über das Gehirn singt, heißt The Amygdaloids.
LeDoux war es, der in der Amygdala, zu Deutsch Mandelkern, eine Schaltstelle der Angst ausmachte. Seither werden andere Hirnforscher oft ganz starr vor Ehrfurcht, wenn sein Name fällt. „Ich habe nicht nach der Amygdala gesucht“, sagt LeDoux und lächelt sanft, „meine Forschung führte mich zu ihr.“
Der Psychologe brachte Ratten bei, sich vor einem bestimmten Ton zu fürchten, indem er ihnen beim Erklingen des Tons einen leichten Stromschlag verpasste. Hörten die Tiere später den Ton, zeigten sie alle Anzeichen von Furcht – auch ohne Stromschlag.
Dann zerstörte der Forscher die Hörrinde im Gehirn der Ratten, so dass sie Geräusche zwar über die Ohren und den Hörnerv noch hören, aber nicht mehr bewusst wahrnehmen konnten. Und noch immer reagierten sie furchtsam auf den Ton.
Erst als LeDoux auch ihre Mandelkerne außer Kraft setzte, ließen sich die Tiere von dem Signal nicht mehr aus der Ruhe bringen – womit der Forscher bewiesen hatte, dass die Amygdala eine zentrale Rolle bei der Auslösung von Angst spielt.
„Man kann das Gehirn von Ratten natürlich nicht in jedem Fall mit dem menschlichen vergleichen“, sagt LeDoux, „aber die Amygdala schon. Sie ist eine uralte, primitive Struktur, die sich im Laufe der Evolution kaum verändert hat.“
In einer bedrohlichen Situation werden im Gehirn zwei verschiedene Schaltkreise aktiviert. Der schnelle Weg, eine Art Notfallprogramm, führt von den Sinnesorganen, welche die Gefahr wahrnehmen, über den Thalamus auf direktem Weg zur Amygdala (siehe Grafik Seite 170). LeDoux: „Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle dabei, neue Reize unmittelbar in gut oder schlecht, schädlich oder wünschenswert einzuteilen.“
Blitzschnell kann die Amygdala den Organismus in Abwehrbereitschaft versetzen: Der Blutdruck schnellt empor, das Herz beginnt zu rasen, die Atmung beschleunigt sich, der Magen krampft sich zusammen, Muskeln spannen sich an, die Nebennieren schütten Stresshormone aus, die Leber setzt Zucker frei – so wird der Körper auf Kampf oder Flucht eingestellt.
All dies geschieht automatisch, ohne eine bewusste Analyse der Situation. Deshalb neigt dieses Angstsystem auch zum Fehlalarm.
Der zweite Schaltkreis ist komplexer und reagiert langsamer; er führt über die Hirnrinde, wo eintreffende Informationen verarbeitet, abgewogen und bewertet werden. Die beiden Kreisläufe sind miteinander verbunden. Das Problem ist aber: Die meisten Verbindungen laufen von der Amygdala zur Hirnrinde – während umgekehrt die Hirnrinde die Amygdala weniger leicht beeinflussen kann. Mit anderen Worten: Die primitive, irrationale Angst ist stärker.
Auch bei den Wissenschaftlern um Jerome Kagan und Nathan Fox steht der Mandelkern im Zentrum des Interesses. „Wir gehen davon aus“, erläutert Kagan, „dass hochreaktive Babys empfindlich auf Neues reagieren, weil sie mit einer speziellen Chemie der Amygdala zur Welt kommen, die diese Hirnstruktur besonders leicht erregbar macht. Und wir haben auch Hinweise darauf gesammelt, dass es sich tatsächlich so verhält.“
Ein entscheidender Versuch dazu fand am Massachusetts General Hospital in Boston statt. Als Kagans Probanden 18 Jahre alt waren, wurden sie von dem Psychiater Carl Schwartz in einen Hirnscanner gesteckt. Schwartz zeigte ihnen Bilder von Gesichtern, maß ihre Hirnaktivität und stellte fest: Die Amygdala der Hochreaktiven reagierte heftiger auf neue Bilder und brauchte länger, um ihre Aktivität wieder zu drosseln – und zwar unabhängig davon, ob die Bilder neutral oder bedrohlich wirkten.
„Diesen Effekt hatten wir eigentlich nur beim Vorführen furchteinflößender Bilder erwartet“, erläutert Schwartz, 55. „Die Amygdala scheint aber immer dann aktiviert zu werden, wenn etwas geschieht, dessen Bedeutung nicht sofort klar ist.“
Der Psychiater machte eine noch weiter reichende Entdeckung: Nicht nur die Hirnaktivität der Ängstlichen war anders, sondern auch die Anatomie. „Das hat mich wirklich verblüfft“, sagt Schwartz, „dass sich das angeborene Temperament von 18-Jährigen in der Struktur ihres Gehirns widerspiegelt.“
So scheint ausgerechnet jene Hirnregion, die dafür sorgt, die Signale der Amygdala abzumildern, bei Hochreaktiven schwächer ausgeprägt zu sein. Schwartz: „Offenbar sieht das Gehirn der Hochreaktiven schon bei der Geburt ein wenig anders aus als bei anderen Menschen.“
Wieweit die Ängstlichkeit wirklich angeboren ist, soll nun durch Genanalysen geklärt werden. Der Genetiker Jordan Smoller von der Harvard Medical School ist bereits damit beschäftigt, DNA-Proben junger Erwachsener aus Kagans Studiengruppe zu untersuchen. „Von bestimmten Genen wissen wir aus Tierstudien, dass sie furchtsames Verhalten beeinflussen“, sagt Smoller. „Wir haben unsere Daten noch nicht vollständig ausgewertet; aber es sieht so aus, als ob einige dieser Gene sich auch auf das angeborene Temperament von Kindern auswirkten.“
Wie sehr die angeborene Ängstlichkeit das weitere Leben prägen kann, zeigt das Beispiel von George Bennett, dem furchtsamen, aber hochintelligenten Jungen aus Kagans Studie. Seine Probleme wuchsen, als er von zu Hause ausziehen und studieren sollte. „Ich musste all diese Bewerbungen für Universitäten schreiben, die Deadlines rückten immer näher“, erzählt er und trommelt nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. „Aber ich war die ganze Zeit so angespannt und gestresst, dass ich anfing, diese kleinen Dinge zu tun – Rituale, die mich beruhigten.“ Zum Beispiel: immer zuerst die Hose anziehen, dann das Shirt. Auch im Auto gab es plötzlich eine strenge Reihenfolge: als Erstes den Sitzgurt anlegen, dann den Schlüssel einstecken, dann erst die Tür schließen. Kontrollieren, ob die Tür zu ist. Im Minutentakt nachsehen, ob die Hände sauber sind.
Eine Therapeutin diagnostizierte eine Zwangsstörung; sie verschrieb eine Gesprächstherapie und ein Antidepressivum. Nach einigen Monaten schien es Bennett besserzugehen. Das änderte sich jedoch, als er zum Studium in einen anderen Bundesstaat zog. „Ich kannte dort niemanden“, sagt er, „ich fühlte mich schrecklich isoliert.“
Daheim in Boston hatte er an Radrennen teilgenommen und Tennis gespielt – nun wagte er es nicht einmal, sich in einem Sportclub anzumelden. „Ich wusste auch gar nicht, wie ich das tun sollte“, flüstert er und starrt auf seine Hände, „man kann ja nicht einfach irgendwo hereinspazieren und … ich weiß nicht.“
Tagsüber verkroch George sich in seinem Zimmer und schlief. Nachts surfte er im Internet, spielte am Computer und sah sich Filme an. „Ich fühlte mich wie in einer Gefängniszelle“, sagt er, „ich vergrub mich tiefer und tiefer, und es wurde immer schwieriger, aus diesem Loch herauszukommen.“
Nach einem halben Jahr gab er es auf: Er schmiss das Studium und zog zurück zu seinen Eltern nach Boston. Nun besucht er eine öffentliche Universität in der Nähe – und studiert Psychologie.
„Ich möchte verstehen, wie der menschliche Geist funktioniert“, sagt George. „Ich möchte lernen, meine Angst in etwas Positives umzuwandeln.“ Er versucht ein Lächeln, dann sagt er: „Vielleicht kann ich irgendwann anderen Menschen helfen, die auch mit Angst kämpfen.“
Woran liegt es, wenn sie sich verselbständigt und krankhaft wird? Antworten auf diese Frage kennt der Psychologe Jürgen Margraf, vielfach preisgekrönter Angstforscher und Autor eines der ersten deutschen Standardwerke der Paniktherapie. Ganz wichtig, sagt Margraf, sei der Umgang der Eltern mit einem zu Angst neigenden Kind. Ob sie zur Beruhigung beitrügen oder selber noch „Ereignisse katastrophisierend interpretieren“, so Margraf, beeinflusse sehr stark die Entwicklung ihres Kindes.
Der zweite Faktor ist die Physiologie – die vielen kleinen Auffälligkeiten, die auch die hochreaktiven Kinder aus Kagans Studie von den anderen unterscheiden. „Die körperlichen Reaktionen sind aber letztlich nicht entscheidend“, sagt auch Margraf, „sondern ihre Bewertung im Kopf.“ Phobiker interpretierten sie oft als Anzeichen drohenden Unheils. So komme es zu Vermeidungsverhalten – und zur Verselbständigung der Angst.
Das ist die gute Nachricht für Angstpatienten. Margraf: „Die Bewertungsprozesse kann man ja ändern.“
Und schließlich brauche es noch ein auslösendes Ereignis, so der Psychologe – das kann zum Beispiel eine traumatische Erfahrung sein, aber auch Stress und Kontrollverlust bei der Arbeit oder in Beziehungen. „Wenn jemand schon eine Angststörung hat, ist es wahrscheinlich, dass er auch noch eine andere entwickelt“, sagt Margraf. Die einzelnen Kategorien seien nicht scharf voneinander abzugrenzen.
Doch wie gelingt es nun, die Angst zu kontrollieren, ihr Potential gar produktiv zu nutzen? So banal es auch klingt: Der beste Schutz besteht darin, die eigenen Fähigkeiten, so gut es geht, zur Entfaltung zu bringen. Für hochreaktive Menschen ist es noch wichtiger als für alle anderen, eine Nische zu finden, eine Leidenschaft, und dann daran zu arbeiten, immer besser zu werden – wie es Bill Gates und Steven Spielberg gelungen ist. Entscheidend sind auch gute, vertrauensvolle Beziehungen.
Jane Williams, heute 20, sitzt in einem italienischen Restaurant in Washington D. C., eine hübsche junge Frau mit langem offenem Haar, sorgfältig geschminkten Augen und einem strahlenden Lächeln. Niemand würde bei ihrem Anblick vermuten, dass sie ein gehemmtes, ängstliches Kind war. Sie lacht viel und schaut ihrem Gegenüber direkt in die Augen – auch dann, wenn sie von ihren Ängsten und Depressionen erzählt.
„Menschen, die nie Probleme hatten, tun mir leid“, sagt sie. „Wer schwierige Zeiten durchgemacht hat, weiß es viel mehr zu schätzen, wenn die Dinge gut laufen.“
Schwierige Zeiten gab es oft in Williams‘ Leben. Schon ihre Großmutter habe an Depressionen gelitten, erzählt sie, und als sie ungefähr zehn Jahre alt war, brach die Krankheit auch bei ihrer Mutter aus. „Ich dachte damals immer, dass ich irgendwie schuld an ihrem Zustand sei“, sagt die junge Frau. „Wenn ich in einem Test in der Schule einmal 95 statt 100 Punkte bekam, konnte sie sich tagelang nicht mehr beruhigen. Sie war permanent am Boden zerstört und aufgewühlt.“
Es dauerte sieben Jahre, bis es ihrer Mutter besserging. „Und dann fing es bei mir an“, sagt Jane. „Ich war einfach nur noch müde und traurig und zog mich komplett zurück.“ Eine Therapie und Medikamente hätten ihr geholfen, sagt sie – vor allem aber die Unterstützung ihres Vaters. „Er ist der erste Mensch, zu dem ich gehe, wenn ich ein Problem habe“, sagt sie und lächelt. „Manchmal rufe ich ihn heute noch mitten in der Nacht an, wenn ich reden möchte, und er hört mir zu und gibt gute Ratschläge.“
Nach der Schule zog sie nach Washington, um Politikwissenschaften und Kommunikation zu studieren. Sie fand einen Nebenjob bei einer Umweltorganisation und trat einer Studentinnenvereinigung bei. „Das macht alles ein wenig kleiner und übersichtlicher; ich weiß, da sind nun 120 Mädchen, mit denen ich meine ganze Collegezeit verbringen werde. Das ist eine schöne Vorstellung.“ In der Vereinigung habe sie eine Freundin gefunden, die ähnliche Interessen habe wie sie: „Mit ihr kann ich einfach essen gehen oder auf der Couch sitzen und fernsehen.“
Natürlich hat ihr neues Leben sie nicht in einen anderen Menschen verwandelt. Sie neigt immer noch dazu, sich Sorgen zu machen. „Wenn ich eine finstere Phase habe, bekomme ich Angst, dass es mir nie mehr bessergehen wird“, sagt Jane, „und manchmal rege ich mich darüber auf, dass ich mich über alles aufrege.“
Sie hat auch noch immer Angst, bei Prüfungen zu versagen und nicht alles zu schaffen, was sie sich vorgenommen hat. Sie lernt viel, vor Tests manchmal die ganze Nacht hindurch. Jane Williams gehört zu den Besten ihres Jahrgangs.
„Ich weiß jetzt, ich muss in Bewegung sein und unter Menschen gehen.“ Sie lächelt, hält inne und sagt: „Dann geht es mir richtig gut.“
Quelle: Der Spiegel