Seit 24 Minuten drückt sie ihn fest zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen. Drückt so fest, als wolle sie ihn zerdrücken. Juliane presst die Lippen aufeinander. Vielleicht aus Schmerz, vielleicht, um einen Hilfeschrei zu unterdrücken. Ein leises Seufzen, dann schüttelt Juliane den Kopf, als sei gerade ein Blitz durch ihren Körper gefahren. Sie schließt die Augen, atmet tief ein und aus, immer wieder, immer tiefer ein und aus. Nicht nachdenken. Nur funktionieren. Durchhalten. Und atmen. Ein und aus. Die Angst einfach wegatmen. Und den Hilfeknopf drücken. Noch ein bisschen fester.
Wovor Juliane Angst hat, das weiß sie nicht. Es ist Mittwoch, 10.39 Uhr, Juliane sitzt in der Uni Mainz, im P1, dem größten Hörsaal des Philosophicums. Beim Betreten um 9.48 Uhr, Juliane ist wie immer die Erste, steuert sie den äußersten Platz auf der rechten Seite in der obersten Reihe an. Kommilitonen strömen an ihr vorbei. Juliane grüßt keinen von ihnen. Stattdessen starrt sie auf ihren Notizblock. Als eine Kommilitonin fragt, ob sie durchrutschen könne, sagt die 24-Jährige: „Sorry, ich muss früher weg. Aber ich lass dich gern durch.“ Fluchtmodus: Immer nah an der Tür sein, nicht eingesperrt werden. Dann starrt Juliane wieder auf ihren Notizblock, auf die Ecke rechts unten, in die sie handschriftlich geschrieben hat „L’enfer, c’est les autres“ – die Hölle, das sind die anderen.